Das Wesen, jemand anderes zu sein, spielerische Unbekümmertheit und literarische Schabernack, die Geister vergangener Künstler ansprechen, als ob sie Zeitgenossen wären, und in einem fortlaufenden metafiktionalen Gespräch – diese wesentlichen Elemente ziehen sich durch das Werk von Herrn Vila-Matas und schaffen einen Atlas von Episoden im Leben eines wandernden Schriftstellers. Es geht zurück auf die “Kurze Geschichte der tragbaren Literatur”. Diese enthält die erfundene Geschichte einer geheimen Gesellschaft von echten Künstlern, Schriftstellern und schrägen Vögeln, genannt Shandies nach dem Schelmen Tristram Shandy des irischen Schriftstellers Laurence Sterne aus dem 17. Jahrhundert. Sie besessen von dem, was sie “tragbare Literatur” nennen, die leicht genug ist, um in einem Koffer getragen zu werden und gelebt werden muss, um geschrieben zu werden.
Kunst intensiviert laut Herrn Vila-Matas das Gefühl, lebendig zu sein. Er schreibt darüber in “Die Inkohärenz von Kassel”. Während er durch die Installationen der Documenta schlendert, zeichnet er die Karte eines Erwachens – seines eigenen. Jede Erfahrung verwandelt die narrative Zeit, das Erzählen der Geschichte, in den Raum der Kunst – sprich dieses Buch – wo der Schwung der visuellen Vorstellungskraft auf Seite festgehalten wird. Erst in Raum könne man jemand anderes werden, schreibt er. Kunst beginnt seine Art des Seins zu verändern; er fängt an, nachts umherzuschweifen, von den Installationen gefesselt, und tagsüber auf dem roten Diwan zu schlummern – statt zu schreiben. Die Installation “Untilled” des französischen Künstlers Pierre Huyghe wird zu seinem persönlichen Paradies.
Mit 60 etwas wie ein Bildungsroman zu erleben? Warum nicht? Kassel brachte laut Herrn Vila-Matas einen “unerwarteten Gangwechsel” mit sich. Er schreibt optimistisch über die Zukunft der Kunst und des Lebens, aber er hat keinen Optimismus in Bezug auf die Welt, die er bereits als verloren betrachtet hatte. Ein Auftritt in Kassel hat zwar nicht das Geheimnis des Universums offenbart, aber er hat diesen bezaubernden, rebellischen Ausflug in die unterirdische Seele der Avantgarde hervorgebracht. Denn laut Herrn Vila-Matas ist “das Leben nicht das, was wir leben, sondern das, was wir in unseren Köpfen erfinden”.